AV - Kinder nerven, nerven und nerven
Gleich zu Beginn tönte es der Lautsprecher an: «Dieses Kabarettprogramm könnte satirische Inhalte enthalten!» Was folgte war rabenschwarzer Humor uber die schnusige Welt der Kinder. Und uber Pädagogen, die aus den «lieben Kleinen» selbstständig denkende Erwachsene zu machen gedenken. Das Publikum lachte sich an «Kinderschreck», dem ersten abendfullenden Kabarettprogramm des diplomierten Kindergärtners Dominic Deville, schief und krumm.
Es klingelt. «Zuerst einmal die Ausrustung der Kleinen kontrollieren, dann komme ich vielleicht die ersten beiden Lektionen uber die Runden», lässt Dominic Deville gleich zu Beginn Böses ahnen. Über die Runden kommen – im Kindergarten – mit den sussen Kleinen? Als ob das ein Überlebenskampf wäre! Deville klärt auf: «Ich bin Kindergärtner! Immer wenn ich meinen Beruf sage, höre ich: Jöööö, wie herzig! Wenn einen zwanzig dankbare Kulleraugen anblicken! Unsinn, vier- bis sechsjährige Kinder sind nicht dankbar. Sie sind egozentrisch und nerven mit der immergleichen Frage: ‹Herr Deville, was muess i mache?›» Damit hatte der Autor, Schauspieler, Punkmusiker und Entertainer am Samstagabend im Saal des Hotels Löwen den Tarif erklärt. Auf Einladung der Kulturgruppe Appenzell demontierte er alle schwärmerischen Vorstellungen vom lieblichen Alltag in einem Kindergarten: Da wird nichts als gespielt und gespielt und noch einmal gespielt.
Eine Meute Unerziehbarer
«Aber Herr Deville, im Wald gibt es doch gar keine Autos», behauptet eines der Mädchen. – «Aber Bären», kontert der Herr Erzieher. – «Herr Lehrer, jetzt hab ich Angst in den Wald zu gehen!» – «Was soll denn ich sagen, wenn ich nachher ganz alleine wieder nach Hause muss!» Nein, da wird nichts geschenkt, da wird nicht gesäuselt. In Tat und Wahrheit ist ein Kindergarten ein Ort, wo ein Kinderdompteuer, vielfach als Kindergärtner bezeichnet, versucht, eine Meute Unerziehbarer, vielfach als Kinder bezeichnet, mit allerlei Tricks zu bändigen. Lehrer stehen fur Deville auf der gleichen Stufe wie das Berufsmilitär. Da ist nichts zu beschönigen. Das Publikum amusierte sich prächtig, der Saal erbebte immer wieder unter schallendem Gelächter. Es war das susssauere Gelächter, das sich einstellt, wenn Tabus gebrochen werden. Da hat sich in unserem Kopf doch das Bild herzbetörender Buben und Mädchen festgesetzt – Kinder, die hupfend auf bunten Wiesen Blumen pflucken und mit glockenhellen Stimmen erbauliche Verse trällern und Ringelreihen tanzen. Und jetzt stellt sich heraus, dass diese Kinder eine wahre Erwachsenenplage sind, die nichts als nerven, nerven und nochmals nerven.
Lust an der Provokation
Gleichsam zum Selbstschutz trällert Herr Deville keine Worte, die sich blutenrein reimen, er produziert mit seiner «schlecht gespielten» Gitarre ohrenbetäubenden Punk, sagen wir es offen, nichts als unsinnigen Lärm, zum Beispiel: «D Polizei isch bi mir dehei. I will nid in Chindsgi do, die sölled mi zerscht eimol fo!» Was fur eine Frechheit, was fur eine Schande! Da macht sich der Kerl doch lustig uber unsere hehre Institution Kindergarten! Und so einer soll tatsächlich seit 15 Jahren als diplomierter Kindergärtner tätig sein. Entlasst den Kerl! Ruft die beleidigte Idylle. Und vergisst: Die Lust an der Provokation ist ein Intelligenz erhaltendes Lebensgefuhl. Immer nur säuseln macht blöd, immer nur Kopfnicken produziert allzu brave Bunzlis. (Deville wurde ironisch schmunzelnd sagen: Leute, die an der letzten Abstimmung «Ja÷ gestimmt haben – wie die Appenzeller.) Wie wohltuend, dass der hoffnungslos missratene Pädagoge eingestehen muss: «Ich bin nie lange in einer Gemeinde!»
«Jedes ist ganz eigen!»
Schliesslich sind alle Kinder unverwechselbare Individuen: Jedes muss sich entfalten, jedes ist ganz eigen! Bullshit, sagt Deville. Sie gleichen sich alle, im Grunde genommen gibt es nur vier Grundtypen. Da wäre mal der Ossim. Der zeigt uberhaupt nie eine Reaktion, starrt nur stumpfsinnig vor sich hin. Oder die Aurelia. Die spricht und spricht und spricht. Und stellt im dummsten Augenblick dumme Fragen. Und erzählt, was niemand wissen will: «Vati schaut gerne jungen Frauen beim Duschen zu!» Oder Kevin, der Überdrehte. Diese Spezies ist im Vormarsch. Nicht in den Griff zu bekommen. Die Mutter hat Verständnis dafur: «Ganz de Bape!» Oder sie bemuht die Sternzeichen. Aber es gibt doch kein Sternzeichen Wildsau, wehrt sich der leid geplagte Pädagoge. Und ganz zum Schluss noch Savanna Cheyenne – solche Namen gibt es heutzutage in den Agglos – die ist altklug, fruhreif, einfach furchtbar. Ihr Kopf hat sich vielfach in die falsche Richtung uberentwickelt: «Ich hab eine Idee. Wir klauen die Knetfarbe, dann muss Herr Deville neue kaufen. Und weil er kein Geld hat, muss er arbeiten gehen. Und wir haben frei!» Das gibts doch gar nicht, solche Szenen sind alle schamlos ubertrieben. Aber nicht doch, so geht es nun einmal zu im Kindergarten, zumindest fast so! Und deshalb kann es passieren, dass beim Geburtstag feiern ausgerechnet das Geburtstagskind draussen vor der Ture vergessen wird. So ein Pech aber auch!
Scheusslich-greusslich
Na ja, ein bisschen zugespitzt, ist das alles schon – vielleicht. Aber mit Erfolg. Das Publikum war hingerissen. Da ist es nichts als ausgleichende Gerechtigkeit, dass es auch noch sein Fett abbekam. Dominic Deville erzählte nämlich zum Schluss ein Märchen. Und liess dem Publikum immer wieder die Wahl: «Wollt ihr die gute oder die schlechte Variante hören?» Und abgesehen von ein paar irregeleitenden Daseinsoptimisten, von subversiv zurechtgeklopften Pädagogen stimmte der ganze Saal immer wieder fur die böse Variante. (Deville selber konnte sich nichts Anderes vorstellen, so geschockt war er noch immer vom Appenzeller Abstimmungsresultat in Sachen Masseneinwanderung und Fristenlösung.) Und deshalb verlief der unvermeidliche Selbstfindungsprozess des unvermeidlichen Prinzen im unvermeidlich scheusslich-greusslichen Deville-Stil: «Beim Herunterfallen verfing sich sein linkes Auge an einem herausstehenden Nagel!» Ist doch lustig. Und so kam es, wie es kommen musste. Dominic Deville stand mit apokalyptisch verzerrtem Gesicht wild um sich kreischend auf der Buhne: Belzebub in Person! Das Publikum kugelte sich vor Lachen. Da erhält der mustergultige Pädagoge von einer empörten Mutter ein Telefon: «Aurelia hat uns erzählt, dass sie Punk spielen und mit nacktem Oberkörper unterrichten.» Was der diplomierte Kindergärtner mit nacktem Oberkörper und cooler Geistesgegenwart konterte: «Ach wissen sie, Aurelia hat eine uberschwängliche Fantasie! Sie erzählt im Kindergarten auch, dass ihr Vater den Frauen beim Duschen zuschaut!» Womit das pädagogische Gespräch erledigt war.
So und nur so kann man uberleben als Erzieher einer unerziehbaren Meute losgelassener Kinderlein.
Text und Fotos: Toni Dörig (Appenzeller Volksfreund)