AV - Man soll die Winde nutzen wie sie weh'n
Ein Matrose aus dem Ruhrpott, der Ringelnatz zitiert und sich gerne einen Schluck Malteser genehmigt, eine gefleckte Kuh, der abwesende Seebär Hinnerk und ein Riesenknäuel Seemannsgarn: Die Veranstaltung der GfI-Kulturgruppe im Restaurant Alpstein in Appenzell vom letzten Samstag wurde damit zum skurrilen Landgang.
Die Lautsprecher berieseln die Gäste mit Joachim Ringelnatz' Lieblingslied «La Paloma». Das Restaurant Alpstein in Appenzell ist keine verrauchte Hafenkneipe wo alle Malteser Aquavit kippen und nicht die Shanghai-Bar, in der Matrose Nagelritz mit einem Tee matt gesetzt und von einer paillettenglitzernden Maid ausgeraubt wird. Hier haben die frühen Gäste mit festem Boden unter den Füssen den Kulturschmaus genossen, bevor sie mit Dirk Langer in See stechen wollten.
Daraus wurde nichts: Der feingliedrige Seemann hat sein Schiff verpasst. Zum ersten Mal steht er da ohne seinen Freund Hinnerk, der für jede Lebenssituation eine markige Weisheit parat hat. Nur sein Seesack ist ihm geblieben. Und viel Seemannsgarn.
Malteser gegen Landkoller
Das spulte der deutsche Künstler am Samstagabend mit viel Schalk und Buben-Charme ab. «Man weiss nie was einem beim Landgang erwartet», sagt auch Hinnerk. Und man weiss nie in welche Abenteuer man mit Nagelritz schwankt. Den kann schon mal der Landkoller packen - das Gegenteil von Seekrankheit und meist nur mit viel Schnaps zu kurieren. Nagelritz heilt dann allerdings eine im Sturm schwankende Schweizer Seilbahn kurz vor dem Happy End seines Landgangs «mit Vieh, Gesang und Vollrausch».
Mit dem Fischmehllaster landet Nagelritz in Bayern und verliebt sich augenblicklich in Renate. Von ihrem Gatten, der ihn fortan mit der Jagdflinte im Anschlag verfolgt, lässt er sich seine Gefühle nicht nehmen. Aber sie hindern ihn auch nicht, zwischendurch mit den weiblichen Gästen zu schäkern. Der Matrose gewinnt eine multitalentierte Kuh, die er nach der Losnummer 4711 tauft und startet mit ihr eine Karriere die ihresgleichen sucht. Tisch und Bett und Badewanne teilt er mit ihr. Sie rocken die grossen Bühnen. «Man soll die Winde nutzen wie sie weh'n», sagt auch Freund Hinnerk. Nagelritz erzählte seine Münchhausengeschichten als kämen sie grad frisch von der Malteser getränkten Leber weg. Dabei bezog er das Publikum mit viel Spontaneität ein: mit zum Auftrittsort passenden Bemerkungen oder mit Mitsingpassagen, mit Ahoi-Brause und Kuh-Bonbons als Belohnung für Antworten. Gut 60 Gäste muhten zu Entspannung freudig mit ihm und 4711 und stimmten ein ins fröhliche «Halleluja».
Zwischen Nonsens und Tiefgang
Dirk Langer ist nicht nur ein begnadeter Seemannsgarn-Spinner sondern auch ein talentierter Musiker - am Klavier, mit der Kindergitarre und dem Schnapsflaschenmarimbaphon. Wo in seinem ersten Programm noch vertonte Ringelnatz-Texte im Zentrum standen, sind es im dritten die durchgehende skurrile Geschichte mit mehreren roten Fäden und die selbst komponierten Songs zwischen Nonsens und Tiefgang. Nagelritz singt von Seemannsfreuden, Bräuten und von Freundschaft, die wie Leberwurst immer wieder neu und anders gemacht sein soll. Er besingt die Seele, die ist wie das Meer, «immer da und immer undurchschaubar».
Ohne ins Schmalzige abzudriften, tippt der Matrose im Seemannsjargon auch die grossen Fragen an: nach der Liebe, nach dem Heim das jeder Mann für sich und sein Herz braucht, nach der letzten grossen Fahrt, wenn man entdeckt welche Wracks man zurückgelassen und welche Schätze man nicht gehoben hat.
Seelenverwandte
Der Kabarettist aus Bremen hat schon als Student der Kunstpädagogik mit Ringelnatz-Abenden sein Geld verdient. Sein Alter Ego Nagelritz hat sich inzwischen verselbstständigt. Zwar schlüpft Dirk Langer mit dem Abspülen der aufgepinselten Tattoos wieder in seine Alltagshaut, aber nach seinem Landgang in Appenzell spann er noch lustig weiter am Seemannsgarn. Als Nagelritz dürfe er all das tun und sagen, was er als Dirk Langer nicht wagen würde, gestand er.
Mit dem Schriftsteller, Maler und Kabarettisten Joachim Ringelnatz (1883 - 1934) verbindet Langer eine Art Seelenverwandtschaft: Wie der Dichter, der wirklich zur See fuhr, hat sich auch Dirk Langer sein inneres Kind quicklebendig erhalten. Seine Mischung aus Lausbub, Frauenheld, Popeye, Philosoph und Chansonnier gefiel dem Appenzeller Publikum ausnehmend gut.
Nagelritz plant bereits sein nächstes Abenteuer: eine Odyssee mit seinen Freunden Hinnerk und Raoul. Zuvor kann man ihn aber noch öfters auf seinem «Landgang mit Vieh, Gesang und Vollrausch» begleiten, zum Beispiel am 12.,14. und 15. Oktober in der Kellerbühne in St.Gallen. Na denn: Ahoi!
Text und Bilder: Monica Dörig