Im Darkroom der guten Laune mit Oxytocin geflutet
Kulturgruppenleiter Silvio Signer bezeichnete die begnadete Komödiantin Birgit Süss als Freundin, als er sie am Samstag zum dritten Mal in Appenzell begrüsste. Wie eine gute Freundin plauderte sie dann «Das Graue vom Himmel», über die Unwägbarkeiten des unvermeidlichen Älterwerdens. Sie verströmte dabei Galgenhumor, Selbstironie und so viel Witz, dass man sich manche Lachträne aus dem Augenwinkel wischen musste.
Birgit Süss findet: «Wir lachen viel zu wenig.» Dagegen unternimmt sie mit ihren Kabarettprogrammen viel. Auch dem Appenzeller Publikum hat sie eine Riesenportion Auslöser für herzhaftes Lachen
mitgebracht.
Birgit Süss ist preisgekrönte Kabarettistin aus Unterfranken in Bayern, Schauspielerin am Theater Würzburg, ausgebildete Jazz-Sängerin, Radiomoderatorin, Dozentin, Autorin, Produzentin. Ihre vielen Talente hat sie grossartig auf der Bühne in der Kunsthalle ausgespielt. Es ging um das Älterwerden, das alle irgendwann befällt und sich durch seltsame Angewohnheiten und Geräusche bemerkbar macht. Für manche ist das Altern ein Schreckgespenst, für Birgit Süss ein Tummelfeld für komödiantische, gesungene und getanzte Einlagen: Jede Nummer eine tolle Nummer. Und älter zu sein, hat ja auch Vorteile wie Gelassenheit, weil man eh nicht mehr schnell genug ist, und, wenn man Birgit Süss glaubt, eine gewisse Narrenfreiheit …
Lachen als Medizin
Birgit Süss, mittlerweile eine Freundin der Kulturgruppe Appenzell, hat dem Publikum die beste Medizin von allen verabreicht. Es erfuhr, dass Erwachsene wegen der antrainierten Selbstkontrolle zu wenig lachen, durchschnittlich 15 Mal am Tag. Im Gegensatz dazu lachen Kinder bis zu 400 Mal täglich. Dabei wäre 1 Minute Lachen so viel wert wie 45 Minuten Achtsamkeit. Sie führte die Zusammenhänge aus zwischen Hormonen und Botenstoffen wie Oxytocin, das nach einem lustigen Abend wie am vergangenen Samstag das Gehirn flutet. Danach braucht man nicht mal mehr Streicheleinheiten …
Birgit Süss riet den Zuschauerinnen und Zuschauern, das Gehirn baumeln zu lassen, denn die Bühne auf dem ehemaligen Ziegelbrennofen wurde für gut 2 Stunden zum geschützten Raum, zum «Darkroom der guten Laune». Um ihr folgen zu können – ihrem Dialekt und ihrem Sprechtempo und vor allem ihren überraschenden Pointen –, musste man dennoch die Gehirnzellen ankurbeln. Klaus Ratzek, der Begleiter mit Tuba und Kontrabass, brachte sämtliche Körperzellen in Schwung.
Lachen als Therapie
Birgit Süss hat die Erwartungen erfüllt: Auf der Menükarte des Bistros hat sie gelesen, dass die feinen Gerichte auf sie abgestimmt worden waren, auf sie und ihre anspruchsvolle Comedy. Sie witzelte: «Der Mann macht den Anspruch, ich die Scherze. » Das war leicht untertrieben. Die Gäste in der Ziegelhütte, mit vielen Grauhaarfrisuren, waren offensichtlich ihr Zielpublikum. Die Künstlerin nimmt den Katzenwahn auf Social Media und in deutschen Haushalten ins Visier, wo 15 Millionen Katzen leben (in der Schweiz wird es sich ähnlich verhalten) – unvergleichlich, wie sie «schnäderfrässige»
Stubentiger mimt.
Sie spricht deutlich und mit ihrem zünftigen Humor über die Sexualität im Alter. Männeryoga soll gut dafür sein, war einer der vielen Tipps, die sie am Samstagabend verteilt hat. Auch wenn’s knirscht im Gebälk, ab 70 geht’s wieder rund, versprach sie, begleitet von ihrem ansteckenden Lachen, das sie Pointen hinterherschickte oder mit dem sie Kunstpausen füllte, wenn sie sich echauffierte. Befragungen hätten ergeben, dass jede dritte Person ab 70 noch sexuell aktiv sei – was immer das bedeutet … Sie analysierte die durch die Benachrichtigungsflut ausgelöste emotionale Herausforderung nach Internetbestellungen und die Wirkung bei der Ankunft des Päckchens.
Birgit Süss bringt Leute nicht nur zum Lachen, sondern macht «betreutes Kabarett ». Ihre Kunst ist gesundheitsfördernd. Dazu gehört auch die entlastende Erkenntnis, dass im Fitnessstudio kein Schwein mehr guckt, hat die Frau ein bestimmtes Alter erreicht. Selber kann eine Frau ungeniert gucken auf Bäuche, Beine, Pos oder auf die mit künstlichen Wimpern und Nägeln aufgebretzelten jungen Frauen.
Lachen als Gegengift
Sie spricht respektvoll über Doktor Markus Söder, den nationalen Würstel-Blogger, der das Gendern verboten hat, anstatt sich um Klimawandel, Rentenreformen und anderes Unwichtiges zu kümmern. Sie verteidigt die neue Aufmerksamkeit humorvoll und durchaus ernst gemeint, etwa die lebensrettende Perspektive in der männerzentrierten Medizin. «Auch Männer brauchen irgendwann Slipeinlagen – nur heisst das dann ‹Protectiv Shield› –, aber das wird auf den Kabarettbühnen ja nicht verhandelt.»
Dazwischen singt Birgit Süss neue Texte auf bekannte Melodien oder eigene Chansons, die Klaus Ratzek wirkungsvoll mit tiefen Tönen und kunstvollen Improvisationen begleitet. Hinreissend gelingt ihr der schwäbische Minnesang «Schmatz» in Anlehnung an «Kiss» von «Prince». Bei der Hymne auf «Helene, die Sirene», von der Birgits Mutti glühender Fan ist, raffte sich das Publikum auf, mitzusingen. Den beeindruckenden Schlusspunkt setzte das Duo mit einem hochdramatisch interpretierten französischen Chanson von Juliette Greco, das jungen Mädchen zuruft, ihr Alter zu geniessen, «denn sie gehen auf eine furchtbare Zukunft mit Schaukelarmen zu».
Text und Bilder: Monica Dörig